Männlichkeit braucht Zärtlichkeit

Männlichkeit braucht Zärtlichkeit

Vor ein paar Tagen war ich mit dem öffentlichen Bus unterwegs und habe eine Szene beobachtet, die mich sehr berührt hat. Ein Vater war mit seinem ungefähr achtjährigen Sohn mit mir im Bus. Während der Fahrt turnte der Sohn an den Haltestangen herum und ließ sich immer wieder gegen den Vater fallen, um Körperkontakt zu bekommen. Schließlich küsste der Sohn seinen Vater ganz zärtlich auf die Wange und die beiden stiegen aus. Eine so offene und innige Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater durfte ich in der Öffentlichkeit bis jetzt noch nie beobachten. Das führt mich zu dem Thema, über das ich heute schreiben möchte.

Männer brauchen Zärtlichkeit und zwar mindestens genau so viel wie Frauen. Männer sind Menschen und Menschen brauchen körperliche Berührung, um gesund zu bleiben. Es kommt mir seltsam vor, dass ich betonen muss, dass Männer Menschen sind. Leider leben wir in einer Zeit, in der alte Männlichkeitsbilder noch die Gesellschaft und oft die Erziehung prägen. Männer sollen hart und stark sein, keine weichen Gefühle zeigen und Beschützer spielen. Diese Vorgaben stammen aus Zeiten, in denen Männer für den Einsatz im Krieg abgehärtet werden sollten. Toxische Männlichkeit ist ein Begriff, der dieses enge Verhaltensmuster beschreibt, in das Männer gesteckt werden. Toxisch (also giftig oder schädlich) sind diese Vorstellungen nicht nur für die Männer selbst, sondern auch für die gesamte Gesellschaft.

Dass Männer als Menschen oft an den sozialen Vorgaben der toxischen Männlichkeit zerbrechen, zeigt leider die traurige Tatsache, dass Männer sich drei Mal häufiger das Leben nehmen als Frauen. Allein dieser Umstand sollte uns wachrütteln und ein Umdenken in Bezug auf Männlichkeitskonzepte stattfinden. Glücklicherweise ist bereits eine langsame Entwicklung im Gange. Jack Urwin ist ein Autor, der sich dem Thema Männlichkeit angenommen hat. In seinem Buch „Boys don’t cry“ beschreibt er aus seiner eigener Erfahrung, was toxische Männlichkeit in seinem Leben bewirkt hat, wie ein Umdenken stattgefunden hat und warum es wichtig ist, dass viele Männer diesen Veränderungsprozess gehen (Interview mit Urwin in der TAZ).

In Gesprächen mit meinen männlichen Klienten oder Freunden und Bekannten merke ich immer wieder die große Sehnsucht von Männern, sich mit ihren männlichen Freunden auch auf einer Herzensebene auszutauschen und sich körperlich begegnen zu können, ohne abgewertet zu werden. Sie wollen nicht nur in Beziehungen zu Frauen Zärtlichkeit leben, sondern auch mit Männern. Es freut mich daher immer sehr, wenn ich sehe, wenn sich Männer auf den Weg machen und den Pfad der toxischen Männlichkeit verlassen.

 

[Bildnachweis: bigstock/ Rido81]